Jörg Mußmann, Hochschulprofessor Dr., an einer Pädagogischen Hochschule in Oberösterreich

Jörg Mußmann, Hochschulprofessor Dr., an einer Pädagogischen Hochschule in Oberösterreich

4. Dezember 2018 Aus Von admin

Es gab Ereignisse und Haltungen in der Geschichte, die waren von solcher fundamentalen Bedeutung, dass sie zu Werten und Geboten in Gesellschaften wurden. Und es gab noch nie zuvor gekannte Ereignisse von solch schwer begreifbaren Ausmaßes, dass sie sich in das Gedächtnis von Gesellschaften einbrannten. Der Holocaust war so ein Ereignis. War eine Gesellschaft, mit ihren Menschen, Institutionen, technischen Möglichkeiten und ihrer Industrie für so einem Verbrechen wie diesen Völkermord als verantwortlich auszumachen, ist sie auch heute noch dafür verantwortlich, daran mahnend zu erinnern. Wer sich als Politiker die Diagnose erlaubt, die heutige und künftige Generation sei an dieser Erinnerung nicht mehr interessiert, setzt sich dem Vorwurf aus, vorsätzlich diese moralisch gebotene Erinnerung zu verhindern, was Raum für Spekulationen nach dem Motiv bietet. Andere Vertreterinnen und Vertreter solcher politischen Lager – und viel häufiger deren Wählerinnen und Wähler ohne eigene politische Verantwortung – scheuen auch nicht davor zurück, dieses Verbrechen zu relativieren oder sogar zu leugnen. Dies ist aus gutem Grund strafbar.

Diesen Politikern möchte man gerne, besonders als Lehrer, einen soziologischen Autoren ans Herz legen, der es unmissverständlich auf den Punkt brachte:

„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug“ (Adorno, 1966).

Politiker, die nicht mehr daran erinnern wollen, lesen aber sicher nicht Theodor W. Adorno und werden dies wahrscheinlich auch nie tun. Seine Zeilen erscheinen – genau darum – nach 52 Jahren aber immer noch aktuell.

Andere Politiker, die mit solchen Politikern kollaborieren, sähen besser aus, wenn sie sich deutlich von jenen Politikern distanzieren, die für solche Ignoranz stehen wollen. In jedem Fall riskieren sie, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Linz spielt eine besondere historische Rolle im Nationalsozialismus. Das wurde mir von Linzerinnen und Linzern unmittelbar vermittelt. Als ich als Deutscher vor einigen Jahren nach Linz zog, meinten eine ganze Reihe von Bekannten, Kollegen und Kolleginnen aus Linz, alle touristischen Attraktionen in einem Atemzug nennen zu müssen mit den „Göring-Werken“, Linz als „Patenstadt des Führers“, dem „Wohnort Eichmanns“. Besonders attraktiv war es nicht, mir das Gefühl zu vermitteln, nur ich hätte als jemand, der aus Deutschland kommt, an diesen Hinweisen besonderes, exklusives Interesse wegen der geschichtlichen Verantwortung. Immer häufiger, besonders bei älteren Österreicherinnen und Österreichern, drängte sich mir der Verdacht auf, diese Mitverantwortung bei Österreich nicht zu sehen. Und wenn die Jüngeren, wie der oben genannte Politiker glaubt zu wissen, daran nicht mehr erinnert werden wollen, dann wird es, wie Charlotte Herman richtig sagt, „allerhöchste Zeit“.

Das Projekt der Stolpersteine ist dafür eine Möglichkeit. Es ist ein angemessenes personalisiertes Gedenken. Das Vorhaben wird kritisiert. Die Kritiken wirken aber wie trotzige Ausreden oder, wie oben vermutet, als politisches Instrument. Schwer im Magen scheint einem anderen verantwortlichen Politiker die (tatsächlich nicht ganz korrekte) Behauptung der israelischen Botschafterin Tayla Lador-Freshner zu liegen, „Linz sei die einzige Stadt im deutschsprachigen Raum, die keine ‚Stolpersteine‘ erlaube“. Für ihn sein dies „kein Grund, dieses Projekt umzusetzen“. Es ist aber auch kein Grund, es nicht umzusetzen. Und „keine Politik auf Zuruf“ machen zu wollen, wirkt eher wie ein Ausdruck persönlicher Befindlichkeit als politischer Souveränität. Erinnert mich ein bisschen an: Wos brauchan mir eich, wir san söba gscheit gnua.

Eine häufig, auch in Deutschland von der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, genannte Kritik ist der Umstand, dass die Steine in den Boden gelassen und dort betreten und verschmutzt werden. Wenn sie schreibt, dass die „Hemmschwelle für Gleichgültigkeit und vorsätzliche Schändung weit niedriger als bei anderen Formen des Gedenkens [liegen]. Die Allerwenigsten bleiben bedächtig stehen“ (Charlotte Knobloch), trifft sie genau den Punkt. Was sie „programmierte Bedeutungslosigkeit“ nennt, ist das Symptom des oben genannten Politikers: Das Gedenken beginnt nicht mit den Stolpersteinen, sondern mit Menschen, die sie nicht wollen und unabsichtlich oder vorsätzlich darauf herumtrampeln. Diese Vorstufe des unwiderruflichen Vergessens ist das moralische Alarmsignal einer Gesellschaft „nach Auschwitz“ (Theodor W. Adorno). Solange über das Vergessen diskutiert wird, ist der Holocaust nicht vergessen. Werden Stolpersteine (als mittlerweile patentierte Kunst-„Marke“) im Routineverfahren verlegt, auf denen dann tatsächlich die jüngeren Generationen mit dem starren Blick auf das Handy im geistigen Standby-Betrieb darüber trampeln, ist es bereits zu spät. Aber vielleicht schweift ja einmal der Blick vom Display einige Zentimeter ab und trifft auf einen der Stolpersteine und lässt kurz aufhorchen: Was ist das? Wo gehe ich gerade entlang? Wer war das? Und war ich gerade kurz davor, eines der größten Verbrechen in der jüngeren Menschheitsgeschichte komplett zu vergessen? Damit sich aber jemand solche Fragen stellt, muss er oder sie in der Schule darüber aufgeklärt werden, dass und warum man sie stellen kann. Da hilft auch kein Stolperstein. Den Lehrerinnen und Lehrerin, die dies nicht wollen, empfehle ich den oben schon erwähnten Theodor W. Adorno.

In vielen Städten halten Vereine und Initiativen die Diskussion um die Gefahr des Vergessens aufrecht. Die Steine werden gereinigt und in den Mittelpunkt von Gedenktagen gestellt, z.B. 27. Januar, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust oder dem 9. November, dem Tag des Gedenkens an die Novemberpogrome 1938. Die Steine können auch für Rundgänge, als außerschulische Lernorte genutzt werden.

Statt nach Gründen wie Verschmutzung oder unachtsames Darauftreten zu suchen, um die Steine nicht zu verlegen, kann auch nach Gründen dafür gesucht werden. So wird als Alternative beispielsweise das Anbringen der Namen sämtlicher der Opfer, zum Beispiel gesammelt auf einer Tafel, an einem zentralen Platz vorgeschlagen. Damit werden die Individuen gleichsam erneut deportiert und konzentriert an einem Sammelpunkt. Nein, es ist die Absicht, dass personalisiert an der Stelle des Grund und Bodens, ihrem Wohnort, gedacht werden soll, von dem jeder einzelne Mensch gewaltsam entrissen wurde, aufhörte, Mensch zu sein, um irgendwo abseits des öffentlichen Lebens konzentriert gesammelt auf den Tod zu warten.